Predigt zu Hebräer 2 , 10 – 18

 

Denn es ziemte sich für den, um dessentwillen alle Dinge sind und durch den alle Dinge sind, dass er den, der viele Söhne zur Herrlichkeit geführt hat, den Anfänger ihres Heils, durch Leiden vollendete. 11 Denn weil sie alle von "einem" kommen, beide, der heiligt und die geheiligt werden, darum schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu nennen, 12 und spricht (Psalm 22,23): »Ich will deinen Namen verkündigen meinen Brüdern und mitten in der Gemeinde dir lobsingen.« 13 Und wiederum (Jesaja 8,17): »Ich will mein Vertrauen auf ihn setzen«; und wiederum (Jesaja 8,18): »Siehe, hier bin ich und die Kinder, die mir Gott gegeben hat.«

14 Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er's gleichermaßen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel, 15 und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten. 16 Denn er nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an. 17 Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes18 Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.

 

Liebe Gemeinde,

 

Da sitzen sie beieinander, Jesus und seine Freunde, die Jünger, der engste Kreis. Sie sind versammelt in einem Saal. Die Landschaft drau­ßen versinkt in der Abenddämmerung. Drinnen ist festliches Licht, der Tisch ist gedeckt: Zum Pessachfest. Zur Erinnerung an Gott, den Befreier. Er hat einst das Elend seines Volkes in der Sklaverei in Ägyp­ten gesehen und ist gekommen, sie in die Freiheit zu führen, ins »ge­lobte Land«. Das feiern sie, heute wie in jedem Jahr. Es ist die häus­liche Feier zum Beginn des Passahfestes. »Mich hat herzlich verlangt, mit euch dies Passahlamm zu essen«, hatte Jesus gesagt. Die Speisen der Erinnerung stehen auf dem Tisch. Durch sie wird die uralte Be­freiungsgeschichte gegenwärtig, wird die Hoffnung lebendig gehalten, auch in finsteren Zeiten. Die Speisen, die Erinnerung – bitter und süß. Das Mahl erinnert. Die Menschen erinnern sich an den um dessent­willen alle Dinge sind und durch den alle Dinge sind. Der Heilige Is­raels ist herniedergefahren aus seiner Höhe, um sich der Menschen zu erbarmen. Der Ewige hat seine Treue immer neu erwiesen. »Ich werde sein, der ich sein werde« ist sein Name. So hat er es Mose einst gesagt, und mit dieser Zusage sind sie durch die Zeiten gewandert.

Da sind sie versammelt, Jesus und seine engsten Gefährten. Es sind die, die Jesus gerufen hat. Mit denen er gegangen ist, und sie mit ihm. Jetzt sind sie noch einmal zusammen: Die Begeisterten und die Zweif­ler, die Zögerlichen und die voller Erwartung. Einer, dem das alles zu lange dauert mit dem Anbruch des Reiches Gottes, der wird ihn nach­her ausliefern an die, die seinen Tod planen. Ein anderer wird alle Verbindungen zu ihm leugnen, als er gefragt wird. Einer, »den Jesus lieb hatte«, sucht hier noch einmal seine herzliche Nähe. Menschen

voller widerstreitender Gefühle sind hier beieinander: mit Hoffnung, mit Furcht, mit guten Erinnerungen und dunklen Befürchtungen. Sol­che, denen die Traditionen heilig und kostbar sind, und solche die brennend sind voller Erwartung. Menschen voller Sehnsucht und sol­che voller Angst. So sind sie beieinander. Und er, der Sohn des Höchsten, aus dem Herzen des Vaters geboren, ist mitten darin. Er ist einer von ihnen, in allem seinen Brüdern gleich, wie wir gehört haben. Er nimmt das Brot zu Beginn der Mahlzeit, spricht das Dankgebet – wie es dem Gastge­ber ziemt. Er teilt es unter sie aus. Und er segnet den Kelch am Ende der Mahlzeit und reicht ihn herum. Mein Leben für euch! Mein »Blut des Bundes«! – nennt er den Kelch. Und da ist er, was ein Späterer im Hebräerbrief von ihm sagt: Da ist er ein treuer Hohepriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. So gründet er neu den Bund Gottes mit den Menschen. So führt er viele Söhne und Töchter zur Herrlich­keit. So macht er ihn, den Ewigen und Barmherzigen, seinen Brüdern neu bekannt. So heiligt er sie. Er schämt sich auch nicht, sie Brüder zu nennen. Er ist einer von ihnen, und Er macht, dass sie eins werden mit Gott. Siehe, hier bin ich, ruft er dem Vater zu, hier bin ich und die Kinder, die du mir gegeben hast.

Diesen Augenblick der göttlichen Geschichte mit den Menschen hat Leonardo da Vinci gemalt – und haben Unzählige vor ihm und nach ihm dargestellt. Wir alle haben es vor unseren inneren Augen, dieses Bild vom Abendmahl. Da sind die Jünger, die Tischgenossen: aufge­regt diskutierend miteinander oder in sich versunken, erwartungsvoll oder voller dunkler Ahnungen, freudig erregt oder mit umwölkter Stirn. Und da sitzt er in ihrer Mitte, da ist er, der treue Hohepriester, mitten darin. Siehe, hier bin ich und die Kinder, die du mir gegeben hast.

II.

Auf der anderen Seite des Tisches, wie in seinem Spiegelbild, da schließt sich der Kreis, da sitzen Menschen in ebensolcher Verschie­denheit, in derselben Zerrissenheit. Auf der anderen Seite des Tisches, sozusagen an seinem heutigen Ende, da sitzen – wir. Wir, die Grün­donnerstagsgemeinde. So, wie wir gerade heute beieinander sind. Stel­len Sie sich das einen Augenblick vor Ihre inneren Augen: Dort sitzt Jesus mit seinen Jüngern und hier sitzen wir. Alles, was in den Jün­gern da ist, ist auch bei uns versammelt: Fremde sind wir an diesem Tisch und Freunde, Vertraute und wie Gäste von draußen, Zweifler und Bekenner, Kämpfer und müde Gewordene, Leute mit gutem Hun­ger und solche, denen der Bissen im Halse stecken bleibt. Solche mit Lebenszuversicht und solche mit Sterbensangst.

Und er wird einer von uns. Er sitzt mitten unter uns, er, der Sohn des Höchsten, aus dem Herzen des Vaters geboren, er teil mit uns. Er wird in allem seinen Schwestern und Brüdern gleich. Er teilt aus, gibt uns das Brot, segnet den Kelch. »Das bin ich. Mein Leben für euch.« So ist er für uns der Bruder, der unsere Tiefen teilt, und zugleich und im selben Augenblick ist er ein treuer Hohepriester vor Gott. Er tritt für uns ein, er heiligt uns. Er macht, dass wir eins werden mit Gott. Er schämt sich nicht, uns Brüder und Schwestern zu nennen. Er setzt sich neben uns. Er ruft zu Gott: Siehe, hier bin ich und die Kinder, die du mir gegeben hast. Ich will deinen Namen verkündigen meinen Brüdern und mitten in der Gemeinde dir lobsingen. Das tut er – hier und heute und immer, wenn wir Gäste sind an seinem Tisch. Er ver­kündet uns Gottes Namen. Und er schreibt unsere Namen dem Vater, dem Ewigen ins Gedächtnis. So führt er viele Söhne und Töchter in die Arme des Vaters, so führt er uns zur Herrlichkeit.

III.

Diese Nacht ist der Augenblick der tiefsten Menschlichkeit Gottes. Nirgends sonst ist Jesus, der Anfänger des Heils uns so nahe wie an diesem Abend und in dieser Nacht. Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden. Tatsächlich, in allem unser Bruder, in allem und gleich. Nachdem er gegessen hat mit seinen Freunden, so wird erzählt von jenem Abend damals, geht er hinaus in die Nacht. Er weiß, dass sein Ende bevorsteht, und er ahnt, dass es schrecklich wird. Er hat Angst. Er ist versucht, dem allen auszuweichen, was als dunkle Ahnung dro­hend vor ihm steht. Er wünscht sich, was jeder Mensch sich wünscht in der Tiefe der Angst: Dass jemand an seiner Seite bleibt. Er fürchtet, verlassen zu werden. Es ist die tiefste menschliche Angst, von Gott und der Welt verlassen zu werden. Die Jünger gehen mit, aber kennen sie seine Angst? Betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt, fordert er sie auf. Die Anfechtung ist, an Gott zu zweifeln, Ihn nicht mehr zu sehen und zu hören in der Angst, sein Da-Sein nicht mehr wahrnehmen zu können in der Bedrohung. Wo bist du, gütiger Vater? Wo ist deine bewahrende Hand? Ich sehe dein leuchtendes Angesicht nicht mehr. Ich höre deine tröstende Stimme nicht mehr. Wo bist du denn, hier im finsteren Tal der Angst? – Betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt. Ihre Anfechtung ist seine Anfechtung. Ihre Not ist seine Not. Er musste in allem seinen Brüdern gleich werden. Er ist ein Mensch von Fleisch und Blut; er leidet auch bis aufs Blut. Er reißt sich von den Jüngern los, wird erzählt. Er geht in die einsame Nacht, sucht Gott im Gebet, trägt seine Anfechtung zu Gott hin: Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir. Aber die ersehnte Antwort bleibt aus. Keine Hand kommt von oben und reißt ihn heraus aus der Not. Kein Hintertürchen tut sich auf, das ihm ermöglicht hätte, sich zurück zu ziehen. Es gibt kein Zurück vor dieser letzten, dunklen Wegstrecke. Es ist wie eine Einbahnstraße, an deren Ende ein gähnender Abgrund sich auftut. Ein Engel vom Himmel kam und stärkte ihn. Aber es gibt Ängste, gegen die Engel nichts ausrichten. Er rang mit dem Tode, er betete heftiger, sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen – Todespanik überfällt ihn. So sehr war Christus einer von uns, so ist er uns gleich geworden. Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden. Helfen kann nur einer, der wirklich nahe ist. Verstehen, was der andere durchmacht, das kann nur, wer selbst daran leidet. Das ist das tiefste Geheimnis der Gottesliebe: Erlösung kommt nicht von oben herab, sondern durch einen, der wirklich nahe ist. Weil in Christus Mensch ist, ein Kind von Fleisch und Blut, mit Haut und Haar, mit Schweiß und Tränen, mit Anfechtung und Todespanik, weil er das alles durchmacht, kann er helfen denen, die versucht werden.

IV.

Wer kann einem anderen schon wirklich beistehen in Todesängsten? Wer kann nahe sein auf dem allerletzten Wegstück? Die Jünger findet er schlafend, als er zurückkommt aus dem Garten. Wären wir besser? – Wir weichen alle zurück, wenn es wirklich hart wird. Wir vermögen es nicht, wirklich beim anderen zu bleiben. Wir stecken nicht drin nicht in dem, was der andere durchmacht, der zum Tode gefordert ist. »Nur der leidende Gott kann helfen« sagt Dietrich Bonhoeffer, einer der versucht ist wie wir. Einer, der Todespanik gelitten hat wie nur irgendeiner. Einer der selber mit Tod und Teufel gekämpft hat. Darum wohl betet Paul Gerhardt:

»Erscheine mir zum Schilde,

Zum Trost in meinem Tod,

Und lass mich sehn dein Bilde

In deiner Kreuzesnot!

Da will ich nach dir blicken,

Da will ich glaubensvoll

Dich fest an mein Herz drücken.

Wer so stirbt, der stirbt wohl.«

Seit jener Nacht im Garten, seit er der in allem seinen Brüder und Schwestern gleich wurde, seit er unter Blut, Schweiß und Tränen mit dem Tode rang, seitdem können wir wissen: Durch welche Todesnacht wir auch irgendwann hindurch müssen – einer war da und ist jetzt da. Der hat das alles schon durchgestanden. Der hört unsern Schrei, wenn wir bitten: Bleib du bei mir! Laufe nicht weg vor meiner Angst! Gib mir Halt, hilf mir, dass ich nicht versinke, dass ich nicht verloren gehe. Weine meine Tränen mit mir und tröste mich! Sprich du für mich, wenn ich verstumme. Ziehe mich zu dir, wenn mir das Leben entgleitet.

Seit er als unser Bruder und Fürsprecher bei uns ist, auch heute, wenn wir das Heilige Mahl feiern, können wir bitten: Erscheine mir zum Schild gegen die Angst, zum letzten Halt im Versinken. Und wir hoffen, dann wird er da sein. Dann wird er vor uns treten und als ein treuer Hoherpriester für uns zum Vater rufen: Siehe, hier bin ich und die Kinder, die Du mir gegeben hast. Hier sind wir zusammen, ich, dein Sohn, und alle deine Kinder. Erbarme dich. Mache auf, Vater. Nimm uns auf. Nimm uns in Deine Arme. Gib uns Raum bei Dir. Lasse uns ein in die himmlische Herrlichkeit.  Amen.