Text: 1 Kor 14,1 – 3.20 – 25 (erst später verlesen!)

I. Es klopft. Zuerst zaghaft, dann lauter. Paulus macht die Tür auf. Draußen stehen zwei Männer in griechischer Kleidung: »Friede sei mit dir, Paulus«, sagt einer der beiden. »Wir kommen aus Korinth und bringen dir Nachrichten aus der Gemeinde.« »Stefanas, Timon – wie schön, euch zu sehen!« ruft Paulus erfreut und bittet sie herein. »Hattet ihr eine gute Reise?« – Später, beim Essen, erzählen ihm Stefanas und Timon alle Neuigkeiten aus der Gemeinde in Korinth. Paulus selbst hatte sie ja einst gegründet. »Manchmal gibt es auch Streit«, berichtet Timon. »Worüber denn?« »Über den Heiligen Geist! Viele aus der Gemeinde sagen: Nur wer in Zungen reden kann, der hat wirklich den Heiligen Geist und nur der ist auch ein wahrer Christ.« »Und darum«, fügt Stefanas hinzu, »reden beim Gottesdienst alle in Zungen. »Alle brabbeln durcheinander, keiner versteht etwas – es ist das reine Chaos!« – »Ich werde euch einen Brief mitgeben«, sagt Paulus. »Den könnt ihr in der Gemeindeversammlung vorlesen.« So oder so ähnlich könnte es sich zugetragen haben, als unser heutiger Predigttext entstand. Hören wir, was Paulus schreibt:

(Lesung des Predigttextes: 1 Kor 14,1 – 3.20 – 25)

1 Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede! 2 Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist von Geheimnissen. 3 Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Liebe Brüder, seid nicht Kinder, wenn es ums Verstehen geht; sondern seid Kinder, wenn es um Böses geht; im Verstehen aber seid vollkommen. 21 Im Gesetz steht geschrieben (Jesaja 28,11-12): »Ich will in andern Zungen und mit andern Lippen reden zu diesem Volk, und sie werden mich auch so nicht hören, spricht der Herr.« 22 Darum ist die Zungenrede ein Zeichen nicht für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen; die prophetische Rede aber ein Zeichen nicht für die Ungläubigen, sondern für die Gläubigen. 23 Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen, es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen? 24 Wenn sie aber alle prophetisch redeten und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von allen geprüft und von allen überführt; 25 was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist.

 

II. Paulus findet es wichtiger, prophetisch zu reden als in Zungen zu reden. Beides ist uns heute fremd. Das Zungenreden wird bei uns in Europa im Gottesdienst kaum praktiziert. In Afrika oder Südamerika, in den Pfingstkirchen, kommt es häufiger vor. Wenn man »Zungenrede« im Internet eingibt, kann man Videos anschauen von Menschen, die offenbar in Ekstase sind: Sie recken ihre Arme in die Luft und geben Worte und Laute von sich, die niemand versteht. Manchmal kann derjenige, der in Zungen redet, das Ganze hinterher in eine verständliche Sprache übersetzen. Wenn nicht, bleibt der Sinn der Worte verborgen. Auch »prophetisches

Reden« gibt es bei uns heute nicht mehr. Zumindest nicht unter diesem Namen. Trotzdem ist das, was Paulus schreibt, auch für uns heute noch hochaktuell. Denn er führt uns deutlich vor Augen, was der Sinn eines Gottesdienstes ist: Menschen sollen durch das, was in der Kirche gesagt wird, aufgebaut, ermahnt und getröstet werden. Sie sollen im Glauben gestärkt werden.

III. Geschieht das heute in unseren Gottesdiensten? Werden Menschen da ermutigt, getröstet und ermahnt? – Ja. Ich denke, jeder und jede von uns hat es schon erlebt, dass ihn oder sie eine Predigt, ein Gebet, ein Lied berührt und gestärkt hat. Sonst wären wir ja heute nicht hier in der Kirche, um Gottesdienst zu feiern.

Aber was ist mit den im Predigttext so genannten Unkundigen und Ungläubigen? Paulus nennt sie als Beispiel dafür, wie wichtig die prophetische Rede ist. Menschen anderer Religionen, die sich für den christlichen Glauben interessierten, waren damals als Gäste zum Gottesdienst zugelassen. Und die, sagt Paulus, können nur zu Gott finden, wenn sie das, was in der Gemeindeversammlung vor sich geht, auch verstehen. Wie ist es denn heute, wenn jemand, der nicht glaubt oder der sich im christlichen Glauben noch nicht auskennt, in unsere Gottesdienste kommt? Wird der Gottesdienst ihn berühren und seinen Glauben wecken? Kann er zu Gott finden? Oder ist er die ganze Zeit damit beschäftigt zu denken: »Wann muss ich hier aufstehen und wann nicht? Was singen die da eigentlich gerade? Ich kann das Glaubensbekenntnis gar nicht auswendig – wo finde ich es im Gesangbuch?« – Eine Konfirmandin, ein sehr aufgewecktes Mädchen, erlebte in einer lutherischen Dorfgemeinde zum ersten Mal einen Abendmahlsgottesdienst mit. Hinterher, am Kirchenausgang, fragte das Mädchen die Pastorin: »Was ist eigentlich ein Dulam?« Die Pastorin guckte zuerst etwas irritiert. »Was meinst du?« »Naja, wir haben doch vorhin beim Abendmahl so ein Lied gesungen.« »Ach so! Du meinst das ›Christe, Du Lamm Gottes‹!« – Was ist eigentlich ein Dulam? Gut, dass die Konfirmandin sich getraut hat, diese Frage zu stellen! Wie viele Jugendliche fragen nicht nach, wenn sie etwas nicht verstehen, und wenden sich dann von der Kirche ab, weil sie ihnen altmodisch und langweilig vorkommt. Das ist schade, denn unser Gott ist ein einladender Gott – wie wir vorhin in der Lesung gehört haben. Der Mann, der das Festmahl ausrichtet, will, dass viele Gäste kommen, dass sein Haus voll wird. Gott lädt uns Menschen ein, auf ihn zu vertrauen,

und möchte, dass wir diese Einladung auch annehmen. Denn wenn wir auf Gott vertrauen, dann leben wir ein sinnvolles, ein erfülltes Leben.

IV. Paulus empfiehlt den Christen in Korinth, sich um die Gabe der prophetischen Rede zu bemühen. Die Menschen sollen verstehen, was im Gottesdienst gesprochen wird. Kein frommes Geschwafel ist gefragt, sondern eine Sprache, die Verstand und Herzen der Menschen erreicht. Das war auch das Anliegen von Martin Luther. Als er sich 1521 auf der Wartburg verstecken musste, fing er an, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen. Denn auch er wollte, dass die Menschen verstehen können, wovon in der Kirche die Rede ist. Sie sollten selber nachprüfen können, ob das stimmte, was ihnen die Priester erzählten. Bei seiner Suche nach deutschen Wörtern orientierte er sich an der Sprache, die die einfachen Leute benutzten. »Dem Volk aufs Maul schauen«, nannte er das. Viele Ausdrücke und Redewendungen, die er sich beim Übersetzen ausgedacht hat, verwenden wir heute noch. »Im Dunkeln tappen« zum Beispiel oder »ein Herz und eine Seele«. – Klaus Douglass, ein Pfarrer aus Hessen, hat sich Gedanken darüber gemacht, wie man heute Menschen für den christlichen Glauben gewinnen kann und wie Gottesdienste sein müssen, damit sie dort Nahrung für ihren Glauben finden. Das Buch, das er darüber geschrieben hat, heißt »Die neue Reformation«. Ein Abschnitt seines Buches gibt sehr zu denken. Darin beschreibt er, dass sich die Kirche mit ihren Ritualen und ihrer Sprache von den heutigen Menschen entfernt hat. Warum erwarten wir, dass Menschen sich auf unsere kirchliche Kultur einlassen, fragt er – wenn es doch eigentlich darum geht, dass sie sich auf Gott einlassen? Muss jemand, der sich für den christlichen Glauben interessiert, automatisch Orgelmusik und Bachkantaten mögen?

V. Es gibt noch etwas, das wir aus dem Predigttext für heute lernen können: Wenn Paulus darüber nachdenkt, wie Gottesdienst sein soll, dann spricht er immer die ganze Gemeinde an. Gottesdienst ist für ihn keine Ein-Mann-Show, sondern ein Gemeinschaftserlebnis. Wenn die Gemeinde zusammenkommt, beten, singen und glauben viele verschiedene Menschen miteinander, und auf das Miteinander kommt es Paulus an. Alle Christinnen und Christen haben eine Gabe, mit der sie etwas zum Gottesdienst beitragen. Darum ist die alte Frau, die immer zum Gottesdienst kommt und mitsingt, genauso wichtig wie der Pastor, der die Predigt

hält. Und die Kirchenvorsteherin, die die Kollekte einsammelt, ist nicht wichtiger als der Konfirmand, der in den Stillephasen zappelig wird. Oder der geistig behinderte Mann, der die ganze Liturgie auswendig mitspricht, auch den Segen des Pfarrers am Schluss. Wir alle sind Gottes Gemeinde, wir alle sind aufgerufen, ihm zu vertrauen und dieses Vertrauen weiterzugeben.

VI. Zu guter Letzt: Wie könnte heute so ein Gottesdienst aussehen, in dem die Menschen gestärkt, ermahnt und getröstet werden? Von dem sie hinterher sagen: »Das hat mir gut getan, da gehe ich wieder hin!« Vielleicht so: Ich stelle mir einen liebevoll hergerichteten Kirchenraum vor – Kerzen brennen, vorne steht einer mit Gitarre und stimmt schon mal ein paar Lieder an. Am Eingang begrüßt mich schüchtern, aber freundlich ein Konfirmand und drückt mir ein Gesangbuch in die Hand. Es sind alte Menschen da, Kinder, Eltern, Jugendliche und Mittelalte. Die Atmosphäre ist ein bisschen wuselig, aber frohgemut und erwartungsvoll. Wir singen alte und neue Lieder, begleitet von der Orgel, vom Posaunenchor oder der Gitarre. Die Predigt ist einfach und klar und hat viel mit unserem Leben zu tun. Der Pfarrer hat sich seine Worte aufgeschrieben, spricht aber frei und man merkt ihm an, dass er auch meint, was er sagt. In den Gebeten kommt zur Sprache, was gerade dran ist in der Welt, und

beim Fürbittengebet dürfen alle, die wollen, nach vorne kommen und ein Licht anzünden für etwas, das ihnen am Herzen liegt. Bald ist der Altar voller Lichter, und wir singen dazu: „Strahlen brechen viele aus einen Licht. Unser Licht heißt Christus“  Beim Nachhausegehen merke ich, wie ich immer noch vor mich hin summe. Und ich denke: »Das nächste Mal muss ich unbedingt meine Freundin mitnehmen, sie verpasst sonst etwas!«  Das ist eine Möglichkeit, wie Menschen in der Kirche getröstet, ermahnt und gestärkt werden können. Der Gottesdienst soll unser Herz berühren und unseren Glauben stärken. Dass das wahr wird, dazu können wir alle beitragen.

Amen.