Predigt zu Johannes 5,39-47

 

 Liebe Gemeinde,

„Clash“ – „Aufeinanderprallen“ - vielleicht haben Sie diesen Ausdruck schon einmal geho¨rt. Ungebremst krachen zwei Autos ineinander. Bevor man es richtig realisiert hat, ist es schon passiert, und man steht vor den Scherben. Was eben noch in Ordnung war, ist vom einen auf den anderen Moment unwiederbringlich zersto¨rt. Es fa¨llt schwer zu verstehen –, aber das spielt keine Rolle. Mit den Folgen man nun leben mu¨ssen. Solch einen Clash gibt es auch, wenn Meinungen und Gefu¨hle aufeinander prallen. Zwei langja¨hrige Freunde zerstreiten sich, weil der eine sich hat hinreißen lassen, etwas Verletzendes z.B. u¨ber die Familie des anderen zu sagen, und der Streit eskaliert. Gespra¨che und Schadensbegrenzung sind dann nicht mehr mo¨glich. Es gibt nur noch A¨rger und Kra¨nkung. Der Bruch ist da; das Herz ist hart. Es bleiben Traurigkeit und Entta¨uschung. So etwas ist mir tatsächlich dieses Jahr erst passiert. Manch eine Liebesheirat hat mit solch einem Clash ihren Endpunkt gefunden. Solch ein Clash steht auch im Hintergrund unseres Bibeltextes heute: Juden und Christen werden danach nicht mehr gemeinsam leben und glauben ko¨nnen. Ausgerechnet an einem Punkt, der sie beide verbindet, hat sich der Bruch vollzogen: an der Tora und den Schriften; dem Alten Testament.

 

 Um unseren Bibeltext recht ho¨ren zu ko¨nnen, ist es wichtig fu¨r das, was passiert war, ein Gefu¨hl zu bekommen. Der Evangelist Johannes schildert es so: Jesus ist zu einem Festtag nach Jerusalem gekommen. Doch man findet ihn nicht bei den Feiernden. Er ist nach Betesda gegangen, einer Art Sanatorium. Um die Teiche herum lagen Sieche und Leidende. Es hieß, wenn ein Engel mit der Fußspitze das Wasser beru¨hrt, wird der gesund, der zuerst im Wasser ist. Jesus wendet sich einem zu, der etwas abseits liegt. Seit 38 Jahren ist er gela¨hmt. Auf die Frage Jesu: „Willst du gesund werden?“, sagt er nur: „Es ist keiner da, der mich zum Wasser bringt.“ Er hat sich selbst aufgegeben! Jesus fordert ihn auf: „Steh auf, nimm dein Bett und geh

hin!“ Und er steht auf, er nimmt sein Bett und geht. Ein wunderbarer Anfang in dieser Geschichte: Ein Mensch, der von allen aufgegeben wurde, ist heil geworden. Das Leben steht ihm wieder offen. Sofort wird man an Verheißungen aus dem Alten Testament erinnert:

Blinde sehen, Lahme gehen, und den Armen wird das Evangelium gepredigt. Großartiges ist im Gange!

Doch jetzt beginnen die Schwierigkeiten:

Ju¨dische Repra¨sentanten sehen ihn und sind entsetzt: Es ist Sabbat. Dieser Mensch geht durch die Straßen und tra¨gt seine Liege – am Sabbat. Kennt er die Gebote nicht? Weiß er nicht, wie man sich gottgefa¨llig zu benehmen hat! Sie wollen ihn zur Rede stellen. Der Geheilte ist ganz verwirrt. Sehen sie nicht, was er Wunderbares erlebt hat? Haben sie keine Augen fu¨r das Heil? Es bleibt ihm nur, auf die Fakten zu verweisen: „Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin!“ Sie lassen den Geheilten ziehen. Doch sie sind entsetzt. All das

entspricht nicht dem, was sie sich unter einem Gott wohlgefa¨lligen Verhalten vorstellen. Sie ko¨nnen keine Freude u¨ber die Heilung empfinden; nicht u¨ber das Wunder staunen; ihr Herz nicht dafu¨r o¨ffnen, dass hier etwas Unglaubliches passiert. All das blenden sie aus und

beharren auf ihrem Standpunkt: „Nicht am Sabbat!“ – Sie werden Jesus zur Rechenschaft ziehen. Die Fronten haben sich weiter verha¨rtet.

Im Tempel dann der Clash: Sie treffen aufeinander, und ein Wort gibt das andere: Die ju¨dischen Repra¨sentanten werfen Jesus vor, den Sabbat nicht zu halten, und Jesus kontert: Ihr begegnet Gott nicht nur in den Schriften. Gott wirkt bis heute mitten in dieser Welt! Und dann fu¨gt er noch hinzu: Und ich tue es auch!

Damit war alles gesagt! Das werden sie niemals anerkennen. Keine Bru¨cke kann diesen Abgrund u¨berwinden. Die Tu¨r ist zugefallen. Und Johannes berichtet: In diesem Moment haben sie beschlossen, Jesus zu to¨ten. Dann wendet sich der Blick ganz auf Jesus. Wir bekommen einen Einblick, wie Jesus das verarbeitet. Er tut das so, wie wir es auch tun. Wenn uns

etwas sehr aufgeregt hat und bescha¨ftigt, setzen wir uns in Gedanken weiter damit auseinander. – Wir fu¨hren das Gespra¨ch innerlich weiter fort. Damit kla¨ren wir unsere Position. Es ist ein mu¨hsames Ringen darum, mit dem Erlebten fertig zu werden und es zu akzeptieren. In einem solchen langen, quasi inneren Monolog erkla¨rt sich Jesus selbst: Mein Wirken ist ganz von Gott her bestimmt. Jesus zeigt sich selbst und uns auf, warum er keine Kompromisse schließen konnte. Gottes Wirken in der Welt soll gesehen und anerkannt werden. Gott ist nicht nur ein

Gott, der zu biblischen Zeiten den Menschen nahe war. Sondern der Gela¨hmte hat heute, hier und jetzt, sein Heil erfahren. Gottes Verheißungen erfu¨llen sich. Am Ende dieses inneren Monologs spricht er quasi zu den Repra¨sentanten der Juden u¨ber die Schrift:

Johannes 5, 39-47
39 Ihr durchforscht die Heilige Schrift, weil ihr meint, in ihr das ewige Leben zu finden. Und tatsächlich weist gerade sie auf mich hin. 40 Dennoch wollt ihr nicht zu mir kommen, um dieses Leben zu haben. 41 Ich suche nicht die Anerkennung von Menschen! 42 Ihr dagegen seid anders. Ich kenne euch und weiß genau, dass ihr keine Liebe zu Gott in euch tragt. 43 Mein Vater hat mich zu euch geschickt, doch ihr lehnt mich ab. Wenn aber jemand in eigenem Auftrag zu euch kommt, den werdet ihr aufnehmen. 44 Kein Wunder, dass ihr nicht glauben könnt! Denn ihr seid doch nur darauf aus, voreinander etwas zu gelten. Aber euch ist völlig gleichgültig, ob ihr vor dem einzigen Gott bestehen könnt. 

45 Es wird gar nicht nötig sein, dass ich euch vor dem Vater anklage: Mose ist euer Ankläger – genau der, auf den ihr eure ganze Hoffnung setzt! 46 Denn in Wirklichkeit glaubt ihr Mose gar nicht; sonst würdet ihr auch mir glauben. Schließlich hat doch Mose von mir geschrieben. 47 Wenn ihr aber nicht einmal glaubt, was er geschrieben hat, wie könnt ihr dann glauben, was ich euch sage?«

 

Dabei ha¨tte es doch so ganz anders sein ko¨nnen und sollen. Alle Menschen in Jerusalem, auch die ju¨dischen Repra¨sentanten, Priester, Schriftgelehrten und Pharisa¨er ha¨tten mit Jesus Passagen und Texte aus der Bibel diskutieren ko¨nnen. Sie ha¨tten mit ihm Gott neu entdecken und im Glauben wachsen ko¨nnen. Ganz lebendig, kraftvoll und wunderbar ha¨tte es sein ko¨nnen und sein sollen. – Das ist das, wonach sich alle gesehnt haben.

Wenn wir das heute verstehen wollten, ko¨nnte man das mit Folgendem vergleichen:

Ein Kind hat einen langen Wunschzettel geschrieben, immer wieder gefragt, ob es wirklich bis Weihnachten warten muss, und ob es auch wirklich seine Geschenke bekommt. Dann ist Weihnachten. Der Weihnachtsmann steht vor der Tu¨r; und das Kind zuckt nur mit den

Schultern: „Sto¨r mich nicht! Es la¨uft gerade meine Lieblingssendung.“ Unfassbar und doch wahr. Jesus bringt Leben, einen neuen Zugang zu Gott. Doch viele Menschen blieben in ihren eigenen Sorgen und in ihrer eigenen Welt verhaftet. Sie haben ihr Herz fu¨r Jesus nicht geo¨ffnet und Gott in ihm blieb ihnen verborgen. Sie sahen die Zeichen, die das Heil anku¨ndigten, doch ihre Herzen waren hart. Am Ende stand Ablehnung, mangelnde Akzeptanz und Feindschaft.

So erlebte es auch die Gemeinde von Johannes, fu¨r die er das Evangelium aufschrieb. Nach der Zersto¨rung Jerusalems durch die Ro¨mer musste sich der ju¨dische Glaube ohne Tempel neu finden. Die Tora und die Schriften wurden den Juden zur inneren Heimat. Skeptisch gegen alle sto¨renden Interpretationen schlossen sie die christliche Gemeinde aus der Synagoge aus. Tief versto¨rt und verletzt waren die Christen heimatlos geworden. Denken wir noch mal an das Ringen Jesu zuru¨ck: Tief traurig, verzweifelt und verletzt ist er. Aber Gefu¨hle von Wut und A¨rger la¨sst er nicht groß werden. Er spricht seine Entta¨uschung aus, aber auf Rache verzichtet er: So vielen lauft ihr hinterher, aber ich werde nicht gegen euch aussagen! Ich werde nicht u¨ber euch klagen, und ich werde nicht u¨ber euch reden! - Damit wird die Trennung akzeptiert, auf Feindschaft verzichtet und die Tu¨r offengehalten. Wir ho¨ren nun fast 2000 Jahre spa¨ter von diesem Konflikt zwischen Jesus und ju¨dischen Repra¨sentanten, zwischen dem neu erstarkenden Judentum und den ersten christlichen Gemeinden. Es sind nicht unsere Konflikte – und doch sind sie aktuell. In Eisenach gab es im Herbst 2016 im Bach-Haus eine Ausstellung: „Martin Luther, Johann Sebastian Bach und die Juden“. Es wurde gewissenhaft aufgezeigt, welche Wurzeln der Judenhass von Luther und Bach hatte –, und dass ihnen der perso¨nliche Kontakt zu Juden fehlte, der sie eines Besseren ha¨tte belehren ko¨nnen. Luther hat garstige Schma¨hschriften gegen die Juden verfasst, und Bach hat in Luthers Spuren diesen Hass musikalisch umgesetzt. - Jesus weist einen anderen Weg; den Weg der Akzeptanz! Juden und Christen gehen auf a¨hnlichen Spuren unterschiedliche Wege. Das ist schmerzhaft –, aber es gibt uns keinen Grund fu¨r Feindschaft und Hass den Juden gegenu¨ber. Noch ein zweites: Liebevoll und mit Mu¨hen engagieren wir uns in den Gemeinden und im Gottesdienst. Immer wieder laden wir Menschen ein, halten Augen und Ohren offen, um ihnen einen Zugang zu unserem Glauben zu

vermitteln. Und wie ha¨ufig haben wir das Gefu¨hl, unsere Liebe erfolglos nachzutragen.

Verhalten wir uns im Sinne Jesu, werden wir mit ihm den Schmerz daru¨ber teilen und zugleich von Gefu¨hlen des A¨rgers und der Rache Abstand nehmen. Wenn nun gilt: „Wer euch ho¨rt, ho¨rt mich!“, dann muss auch Jesu Großherzigkeit in unserem Verhalten zu spu¨ren sein. Wir werden nicht zulassen, dass unsere Herzen hart werden. Schließlich haben wir etwas viel Besseres, einen lebendigen Glauben und ein Wissen, dass Gott heute in uns wirkt, dass Jesu Wirken in unserem Tun gegenwa¨rtig ist.

Das klingt zu groß. Doch schauen Sie auf Ihre Gebete. Was daraus geworden ist. Sie werden Antworten Gottes finden. Immer wieder neu; immer wieder u¨berraschend. Und wir werden Kraft finden, auf den Spuren Jesu zu gehen, gerade auch in Zeiten, in denen wir einen perso¨nlichen Clash zu verarbeiten haben. Amen. So soll es sein.