Liebe Gemeinde!

Am Gründonnerstag erinnern wir uns an das letzte Mahl, das Jesus vor seinem Tod mit seinen Jüngern abgehalten hat. Ein besonderes Mahl ist es gewesen. Denn das nahe bevorstehende Sterben Jesu hat die Erklärungen und Gespräche während dieses Essens sehr bedeutsam gemacht.

Eigentlich war man ja aus einem ganz andern Grund zusammengekommen. Das Passahfest hatte begonnen, das Fest der Errettung Israels aus der Sklaverei in Ägypten. An diesem Abend feierte man mit der Familie oder mit Freunden, dass Gott sein Volk aus großer Not herausgeführt hat. Als fromme Juden taten dies Jesus und seine Jünger natürlich auch.

Der Hausvater leitet das Fest und deutet die Speisen. Dann erst wird so richtig miteinander gegessen. Auch Jesus hat das an diesem Abend vor rund 2000 Jahren so gemacht. Doch als die Festeröffnung vorüber ist, und das gemeinsame Essen und Trinken in vollem Gange ist, da stockt auf einmal die fröhliche Unterhaltung. Jesus wird plötzlich ganz ernst.

Der Evangelist Markus berichtet uns davon im 14. Kapitel seines Buches, dem Predigtabschnitt für den heutigen Tag. Hören wir, was nun bei der Passahfeier Jesu mit seinen Jüngern Besonderes geschieht:

Am Abend kam Jesus mit den Zwölfen. Und als sie bei Tisch waren und aßen, sprach Jesus: Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch, der mit mir isst, wird mich verraten. Und sie wurden traurig und fragten ihn, einer nach dem andern:

Bin ich’s? Er aber sprach zu ihnen: Einer von den Zwölfen, der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht. Der Menschensohn geht zwar hin, wie von ihm geschrieben steht; weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.

Und als sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s ihnen und sprach: Nehmet; das ist mein Leib.

Und er nahm den Kelch, dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus. Und er sprach zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs neue davon trinke im Reich Gottes.

Und als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg.

Jetzt brauchen die Jünger erst einmal frische Luft! Hinaus ins Freie, an den Ölberg! Wohl eher gequält werden sie die Feier noch zu Ende gebracht und den Lobpreis gesungen haben. Denn schockierend und verwirrend war das, was die Jünger eben zu hören bekamen.

Mit einem Schlag war die ganze Feststimmung weg. Mitten im Feiern hatte Jesus gesagt: Einer unter euch, der mit mir isst, wird mich verraten. Den Jüngern blieb der Bissen im Halse stecken. Erschrocken blickten sie einander an. Ein Verräter unter ihnen? Jemand aus ihrer Mitte, aus dem engsten Kreis der Freunde sollte Jesus ans Messer liefern? Kann das überhaupt sein? Traurig, wenn es so wäre!

Doch als der erste Schrecken gewichen war, kam die Ungewissheit: Bin ich’s? Keiner ist mehr hundertprozentig sicher. Wie ein Schreckgespenst läuft die Frage von einem Mund zum andern. Und Jesus: Einer von den Zwölfen. Einer, der mit mir sein Fladenbrot in die Mus-Schüssel taucht. Das aber tut heute Abend doch jeder! Steckt der Verrat etwa in ihnen allen?

Ein Judas ist hier noch nicht ausgemacht – anders als die späteren Evangelien berichten. Der ganze Jünger-Kreis ist mit dem Verrat konfrontiert; und letztlich muss sich jeder einzelne seine Unzulänglichkeit auch eingestehen: Ja, ich könnte es sein – bin ich’s? Das Potential zum Judas steckt in jedem. Aber auch mit jedem potentiellen Judas feiert Jesus das Fest der Befreiung!

Wie ist das mit uns? Verrate ich Jesus, obwohl ich gerade noch mit ihm am Tisch saß? Bin´s ich? Wie lange bin ich Jesus treu?

Noch ganz benommen sind die Jünger von den eigenen Abgründen, die Jesus ihnen aufgezeigt hat. Und wie ein Keulenschlag muss sie der Satz getroffen haben, mit dem Jesus ihre Fragerei beendet: Weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.

Totenstille. Das Ausmaß von Sünde und Schuld kann gar nicht mehr höher gesteigert werden. Doch genauso ist es. Sünde und Schuld zerstören das Leben, nehmen die von Gott geschenkte Geburt zurück. Ausweglos und abgrundtief ist diese Todverfallenheit des Menschen.

 

 

Die Toraja sind ein Bergvolk auf der Insel Sulawesi in Indonesien. Sie zählen etwa eine halbe Million Menschen, die in abenteuerlich bunten, wie mächtige Kähne geschnittenen Häusern leben. Zierliche mandeläugige Leute, die ihr tägliches Brot mit harter Arbeit verdienen. Sie pflanzen Baumwolle und weben daraus bunte Stoffe oder sie ziehen mit ihren Wasserbüffeln Furchen in die Reisfelder, die satt in allen Schattierungen des Grün zwischen den Hügeln leuchten. Die Toraja sind erst in der dritten Generation Christen. Sie haben sich von niederländischen Missionaren über die Jahre davon überzeugen lassen, dass im vielfältigen Angebot der Religionen der Welt ausgerechnet das Christentum zu ihnen passen würde. Denn hier geht es im Kern um Leben und Tod. Es geht um die Frage, wie Leben und Tod ineinander verschlungen sind. Es geht um den Einfluss, den der Tod auf das Leben der Menschen hat - und umgekehrt. In ihrer früheren animistischen Religion lebten die Toraja beinahe ausschließlich für den Tod. Sie glaubten, dass ein Mensch nach seinem Tod nur dann in ein gutes anderes Leben kommt, wenn er von möglichst vielen weißen Wasserbüffeln begleitet wird, die zu den Begräbnisfeierlichkeiten rituell geschlachtet werden. Dann verkürzt sich der Weg durch die Vorhölle, dann zieht der Gestorbene direkt ins Paradies, so glauben sie. Ein Festmahl für das ganze Dorf, ein Magnet für Touristen: die öffentliche Opferung dieser großen freundlichen Tiere. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die ganze Familie ein Leben lang auf das Begräbnis sparen muss, denn so ein Büffel kostet so viel wie ein Einfamilienhaus auf dem Lande. Die Lebensarbeit der Menschen auf ihren Reisfeldern oder beim Weben und Färben von Stoffen fließt also in die Begleitung und Versorgung der Toten. Ganz abgelöst sind die alten animistischen Riten bis heute noch nicht. Auch bei den christlichen Toraja gibt es sie noch, diese spektakulären Beerdigungsfeiern. Aber langsam, sehr langsam setzt sich dort die Erkenntnis durch, was der Glaube an Christus für den jahrtausendealten Totenkult heißen kann: Es gibt ein Leben vor dem Tod! Und: Die Hölle ist kein gottloser Ort mehr. Und: Es gibt eine Hoffnung auf Zukunft – frei vom Schatten des Todes.

Darum geht es in der Karwoche, darum geht es im Abendmahl: um eine offene Zukunft frei von den Schulden der Vergangenheit. Als Jesus am Vorabend seiner Kreuzigung seine Einladung ausspricht an alle, die ihn in den vergangenen drei Jahren gefolgt sind an die Fischer, die ihre Boote und Netze liegen gelassen hatten, an die Frauen, die ihr Haus verkauft hatten, an die Rebellen, dieean den neuen Anführer glaubten und an das Ende der politischen Fremdherrschaft da hatte er zu einem jüdischen Passahfest geladen. Die Erinnerung an die Befreiung von einem Leben für den Tod. Die hebräischen Arbeiter hatten die Pyramiden gebaut, diese überdimensionierten Särge mitten in der Wüste. Stein r Stein
hatten sie als ein Volk in der Geiselhaft der Pharaonen ihre gesamte Lebens- und Arbeitszeit in diese Todesarbeit gesteckt. Mose hatte ihnen im Auftrag Gottes die Freiheit versprochen und dem Pharao schreckliche Gottesstrafen angedroht, falls er seine Sklaven, die Handwerker der Totenkulte, nicht freiließe. Erst die neunte, die fürchterlichste soll in die Freiheit geführt haben. Gott würde die erstgeborenen Jungen aus den ägyptischen Familien zu Tode bringen, die Hebräer sollten ihre Haustüre mit dem Blut eines Lammes beschmieren und dann auf gepackten Koffern sitzend warten, was geschehen würde. Sie sollten nicht warten, bis das Brot durchsäuert wäre, sondern die ungesäuerten Brote in die Freiheit mitnehmen. Gottes Todesengel wanderte durch die Straßen der Städte am Nil, berichtet die alte Geschichte, und die männlichen Kinder der Ägypter starben wie die Fliegen. Die Hebräer aber und ihre Kinder blieben am Leben. Das  Zeichen des Lamms an der Türe bedeutete Verschonung und Befreiung vom Tod. Bedeutete den Weg in ein neues Leben. Das Passahfest, das Jesus an seinem letzten Abend feiert, erinnert an diese Befreiungsgeschichte aus der Todeszone. Mit einem spielentscheidenden Unterschied: Als Jesus das Brot bricht als Erinnerung an die unvergessliche Nacht der Befreiung, sagt er: Dieses Brot, »das ist mein Leib«, der gebrochen werden wird. Und als der Becher herumgeht mit dem roten Wein, hebt er ihn und sagt: Das Lamm, das geschlachtet wurde, damit die Menschen verschont werden, das bin ich und »das ist mein Blut«. Er sagt damit: Ich bin das letzte Opfer, das Gott oder den Göttern gebracht wird, und mein Tod bedeutet den Untergang der Höllen und Todeszonen. Ein für alle Mal. Es steckt also eine Menge archaisches Fürchten in unserem Fest des Abendmahls. Es steckt die Erinnerung an Unterdrückung und Qual darin und das Wissen darum, dass die Sphäre des Todes ein ganzes Leben überschatten kann. Es steckt aber zugleich die Überwindung der Furcht in der Feier des Abendmahls - und die Befreiung von all den Ritualen des Todes, denen wir uns auch in der modernen Welt verschrieben haben. Wenn wir Abendmahl feiern, dann feiern wir, dass mit Jesu Tod die Sphäre des Lebens den Tod überlagert. Wir sind dem Tode entflohen. »Der Tod ist verschlungen in den Sieg«, heißt es rätselhaft bei Paulus. Aber das Rätsel löst sich am Tisch des Herrn: Wir feiern das Fest des Lebens. Wir feiern, dass Gott selbst die Hölle zum Gottesgebiet erklärt hat. Dass unser Gott uns nicht mehr mit dem Tode bedroht. Und wir feiern, dass auch wir andere nicht mehr mit dem Tode bedrohen. Wir feiern, dass Gott keine Opfer mehr will. Nie mehr. Wir feiern, dass eine Zukunft in Freiheit beginnt. Unbelastet. »Christen sind Protestleute gegen den Tod«,  soll der schwäbische Theologe und Politiker Christoph Blumhardt gesagt haben. Ist das nicht ein starkes Bild? Menschen stehen aufrecht um den Tisch des Herrn und feiern den Sieg des Lebens und den Untergang der Hölle. Protestleute gegen den Tod: Gegen die Menschen, die die Todeszonen auf dieser Erde dehnen. Es gibt sie. Gegen die, die sich in tödlichen Strukturen bewegen. Es gibt sie. Gegen die, die für den Tod arbeiten. Es gibt sie. Wir feiern, dass der Tod keine Macht mehr hat über uns. Dass die Zukunft offen ist und dass wir für ein Leben stehen, in dem immer weniger Hölle wird und immer mehr Himmel ist.

 

So soll es sein – So spreche ich Amen